Mein Mauerfall

Ein spätes Geständnis

An diesem Wochenende, an dem sich der deutsch-deutsche Mauerfall zum 25. Male jährt, kramen viele Menschen in ihren Erinnerungen an jenen 9. November vor 25 Jahren. Lange kramen müssen die Meisten dabei nicht, denn der Tag des Mauerfalls ist natürlich so ein Tag, der einfach fest verankert ist, nicht nur im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft, sondern auch im individuellen Gedächtnis jedes Einzelnen. Die Frage, was hast du am Abend des 9. November 1989 gemacht, können fast alle Menschen, die damals in Deutschland lebten, ausführlich beantworten. Da möchte ich meine persönlichen Erinnerungen an diesen Tag nicht länger zurückhalten. Nachdem ich ein Vierteljahrhundert über mein Erleben des Mauerfalls geschwiegen habe, muss es jetzt endlich raus. Ich bin nun soweit, dass ich das aussprechen kann, wofür ich mich 25 Jahre geschämt habe.

Ich habe den Mauerfall verpasst.

Nochmal: Ich habe den Mauerfall verpasst.

Die berühmte chaotische Pressekonferenz mit Schabowski und seinem Satz „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ habe ich an jenem Abend in meinem kleinen möblierten Studentenzimmer am Hirschberg in Marburg noch live im Fernsehen gesehen. Dass dieser Satz bedeutet, dass die Mauer fällt, das war mir in diesem Moment nicht klar – wie so vielen Menschen und Schabowski selbst wohl auch nicht. Kurz nach dem Schabowski-Satz musste ich aus dem Haus in Richtung Oberstadt-Kino. Hier schaute ich den Film „Last Exit Brooklyn“. Mit wem zusammen ich an dem Abend in dem Kino war, das weiß ich nicht. Wer es war, bitte melden! Der Kinosaal, in dem der Film lief, war die kammer, nicht die palette und auch nicht das atelier, das weiß ich noch. Ob ich mit meiner Kinobegleitung nach dem Film noch in in einer der umliegenden Kneipen was trinken war, das weiß ich nicht mehr genau, ich meine mich aber erinnern zu können, dass wir in der direkt neben dem Kino gelegene Destille waren. Nach dem Kino wieder zu Hause habe ich mit Sicherheit keinen Fernseher und auch kein Radio mehr eingeschaltet, denn dort hätte ich natürlich von der Maueröffnung erfahren.

Am nächsten Morgen hörte ich auch kein Radio und schaute auch nicht fern. Fernsehprogramm am Morgen gab es damals auch sowieso noch nicht. Den 10. November 1989 habe ich dann tagsüber in der Politologen-Bibliothek in der Phil Fak zugebracht, an einer Hausarbeit schreibend, an welchem Thema weiß ich beim besten Willen nicht mehr. In jenen Jahren war ich eigentlich permanent mit irgendeiner Hausarbeit befasst, das lag nicht daran, dass ich so viele Hausarbeiten schreiben musste, sondern eher daran, dass ich für meine wenigen Hausarbeiten immer ewig lange brauchte. Mittags in der Mensa war ich wahrscheinlich alleine essen, die Mauer-Neuigkeiten erreichten mich dort jedenfalls nicht. Mein Arbeitstag in der Politologen-Bibliothek endete am frühen Abend, es war schon dunkel, ich ging direkt nach Hause an den Hirschberg, schaltete zum Abendbrot den Fernseher an und sah das:

Der Abschluss der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus am 10.11.1989 mit Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Walter Momper und Jürgen Wohlrabe (Eingebettetes YouTube-Video)

Und so erfuhr ich durch den A-Capella-Gesang des Politikerquintetts unter der Führung von Jürgen „Übelkrähe“ Wohlrabe dann mit fast 24-stündiger Verspätung doch noch vom Mauerfall. Ich war dem Sängerquintett für seine Darbietung damals sehr dankbar, haben sie mir doch einen heiteren Feierabend verschafft und mich damit über meinen verpassten Mauerfall hinweggetröstet.

Und ich sage es abschließend gerne noch ein drittes Mal, weil es wirklich wahr ist und damit du es mir glaubst: Ich habe den Mauerfall verpasst.


Kommentare

Mein Mauerfall — Ein Kommentar

  1. Hallo Roger, ich bin entsetzt. An dem Abend war doch DFB-Pokal! Der VfB Stuttgart hat die Bayern (live im TV) aus dem Pokal geworfen. Das einzige Mal bis heute, dass ihnen dies gelang. Ansonsten habe ich die Pressekonferenz in meinem Wohnheimzimmer im Studentendorf natürlich gesehen und mit den anderen Bewohnern diskutiert. Nach dem Spiel konnte man die Ereignisse in Berlin dann auch live verfolgen. Ich werde den Mauerfall immer mit der Pokalpleite der Bayern verbinden.

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