29 Jahre danach

Endlich ein Live-Album von The Multicoloured Shades

Transceiver

(Photo: neo386 – Lizenz: CC BY-SA 3.0)

In den 1980er Jahren im mittelhessischen Provinzstädtchen Marburg gab es nur drei Bezugsquellen für aufregende Musik. Durch den Äther Klaus Walters „Der Ball ist rund“ auf hr3, auf der Bühne im Kulturladen KFZ die Musikreihe „The Sound of Independence“ und schließlich den Keller von Radio Brand. Den musste man aber erstmal finden – den Keller von Radio Brand. Oben im Erdgeschoss, das aber schon tiefer als die vorbeiführende Universitätsstraße lag, gab es ein in den 80ern noch florierendes normales HiFi- und Fernsehgeschäft. Hinten im Verkaufsraum dann ein schmaler und steiler Treppenabstieg, der hinabführte in einen fensterlosen gelb-gestrichenen Kellerraum. In dem gelben Keller wurde man erwartet von einem Lou-Reed-Lookalike namens Manni samt rothaariger Freundin, deren beider Gesichtsfarbe darauf schließen ließ, dass dieser Keller ihr Lebensraum war und die gelben Wände die einzige Helligkeit in ihrem Leben. Aber die beiden brauchten keine Sonne, sie hatten ihre Musik, liebevoll ausgestellt in der Mitte des Kellers in Hunderten oder Tausenden von Vinylplatten. Und sie hatten die richtige Musik: den heißen Indiescheiß der 80er, mit dessen kultureller Aneignung sich damals ein herrlicher „Distinktionsgewinn“ (Pierre Bordieu) erzielen ließ. An den Seitenwänden des gelben Kellers standen Plattenspieler, auf die der Musikfreund sich Platten aus dem reichhaltigen Vinylfundus auflegen und über Kopfhörer anhören konnte, so viel und so lange er wollte. Das nicht nur musikkompetente, sondern auch freundliche Kellerpaar, Manni und die rothaarige Freundin, blieb hinter seinem Verkaufstresen und übte keinen Zeit- oder Konsumdruck aus. Für den Musikfreund war das das Paradies. Hier lernte er die Violent Femmes, die Pixies, Hüsker Dü, Dinosaur Jr., The Jesus and Mary Chain, XTC und die Einstürzenden Neubauten kennen und lieben. Und dann The Multicoloured Shades, um die es hier eigentlich gehen soll.

The Multicoloured Shades – von dieser Band hatte der Musikfreund noch nie gehört oder gelesen, als ihm eines Tages im Keller von Radio Brand diese Platte in die Hände fiel. „House of Wax“ hieß das Werk, es war eine wunderschöne Platte. Und wunderschön bezieht sich hier nicht auf die Musik, sondern auf das Optische der Platte. Auch nicht auf das Cover, sondern auf die Platte selbst. Die war nicht schwarz, sondern bunt. Ein psychedelicher Farbenmix aus ineinander verschwimmenden Rot-, Rosa- und Weißtönen  kreiste auf dem Plattenteller und ließ es dem Musikfreund vor den Augen ganz schwummerig werden. Und die Musik war auch ganz speziell, schöne Melodien, etwas düster, etwas rauh, ein eindringlicher Gesang und über allem diese dreckige Orgel. Diese Band war wirklich klasse und niemand kannte sie – Stichwort: Distinktionsgewinn. Die Platte und auch das orangefarbene Vorgängerwerk kamen schnell in den Besitz des Musikfreundes. Und dann im Herbst 1986, der Musikfreund weilte zum ersten Male in West-Berlin, konnte er tatsächlich an einem Auftritt der Band in einem kleinen Club in der Kantstraße teilnehmen, in der ersten Reihe sitzend mit den Füßen auf dem Bühnenboden. Was für eine Fügung, dass diese Band zur gleichen Zeit in West-Berlin war! Was für ein Konzert! Und der Sänger der Multicoloured Shades Pete Barany war für einen Wimpernschlag der Geschichte das coolste Wesen auf diesem Planeten. Im Jahr darauf hatten die Multicoloured Shades sogar einen kleinen Hit: „Teen Sex Transfusion“ hieß das Stück, das man gelegentlich im Radio hören konnte und auch auf Feten (so hießen die Partys in jener Zeit) manchmal aufgelegt wurde. Ein großer Hit wurde „Teen Sex Transfusion“ leider nicht, was vielleicht auch daran lag, dass die Band aus Marl kam und nicht aus Manchester. Deutsche Musiker, die in den merkwürdigen 80er Jahren Erfolg haben wollten, mussten deutsch singen, eine allseitige Betroffenheit simulieren und eines durften sie nicht sein: sexy.

Nach einem weiteren guten Album „Sundome City Exit“ und einer mittelmäßigen Platte „Ranchero“ lösten sich die Multicoloured Shades 1990 auf. Zwölf Jahre später, der Musikfreund lebte mittlerweile im Ruhrgebiet, gab es einen Comeback-Versuch der Multicoloured Shades. Ein Best-of-Album kam auf den Markt, eine Tournee war in Vorbereitung – in der örtlichen Presse wurde beides wohlwollend kommentiert. Dann starb der Sänger Pete Barany im April 2002 im Alter von 42 an einer Überdosis Psychopharmaka. Ein trauriges Ende und natürlich auch das Ende der Band.

Doch jetzt – was für eine Freude – ist mit 29-jähriger Verspätung ein Live-Konzert von 1986 als Download-Album erschienen. „Live in Berlin“ heißt das Werk – und es ist genau das Konzert, dem der Musikfreund im Oktober 1986 in der Kantstraße beiwohnen durfte. Ein Live-Album kann ein Konzert-Erlebnis zwar niemals ersetzen, es ist aber für den Musikfreund einfach schön, dass ausgerechnet dieses Konzert der Multicoloured Shades für die Nachwelt festgehalten wird. Die Angaben des Labels, dass das Konzert 1987 stattgefunden habe, sind falsch. Es sind hier eindeutig große Teile des Konzerts aus dem Oktober 1986 im Quasimodo in der Kantstraße konserviert worden. Die schönen Erinnerungen hieran trügen den Musikfreund keineswegs.

Die Tracklist:

01. So Sad
02. Frozen Heart
03. Invisible Girl
04. Roses
05. Witches
06. Out in the Clubs
07. Sometimes
08. Hunting
09. Heartbeat
10. It’s Your Life
11. Teen Sex Transfusion
12. Brain Patrol

Schade, dass es „Live in Berlin“ nur als Download und im Stream gibt. Manni und die rothaarige Freundin, die hoffentlich noch immer im Musikbusiness arbeiten, wenn auch nicht beim leider schon lange nicht mehr existierenden Radio Brand, die beiden, wo immer sie jetzt gerade sind, würden dieses Album den Musikfreunden dieser Welt bestimmt gerne als vielfarbige Vinyledition feilbieten.

The Multicoloured Shades in „Live aus dem Alabama“ (Bayerisches Fernsehen 1986) (Eingebettetes YouTube-Video)


Kommentare

29 Jahre danach — 2 Kommentare

  1. Hat jetzt nichts mit der Band zu tun, aber der Keller von Radio Brand war schon richtig klasse.
    Wenn mein damaliger Freund sonst nirgendwo aufzufinden war, wusste man genau, der ist bei Radio Brand und hat Kopfhörer auf 😉
    Danke für die nette Erinnerung.

  2. Klasse. Pete auf der Bühne und privat. Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht.
    Er war ein feiner Kerl. Schade, dass er diesen Weg gegangen ist.

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