Kragen und Kopf
Was bisher geschah: In Hamburg-Rothenburgsort wird eine Rentnerin mit einem weißen Frotteeband erdrosselt. Die junge Korrektorin Anja Wieder, die an ihrem ersten journalistischen Auftrag arbeitet, gibt sich gegenüber dem am Tatort ermittelnden Kommissar als Polizeifotografin aus und kann so Fotos von der Leiche machen. Beim Nachbarn der Rentnerin, dem Liedermacher Bernd Berger, entdeckt Anja, dass an dessen weißen Frotteebademantel der Gürtel fehlt.
Hauptkommissar Paul Kragen hängt seinen weißen Trenchcoat auf den komfortablen Kleiderbügel aus Holz in die Schrankgarderobe. Er ist heute als Erster im Büro – sein Kollege wird heute mit dem billigen Plastikbügel Vorlieb nehmen müssen.
Paul Kragen hat gerade an seinem Schreibtisch Platz genommen und den PC eingeschaltet, als die Tür aufgeht und sein Büropartner Hauptkommissar Peter Kopf hineinstürmt.
„Hast du den PC schon hochgefahren, Paul?“, sprudelt es aus dem Neuankömmling heraus, „ich habe etwas Sensationelles mitgebracht.“
„Guten Morgen erst mal, lieber Kollege“, entgegnet Paul Kragen, „mein PC ist gleich startbereit. Was hast du mitgebracht?“
Peter Kopf zieht aus seiner Aktentasche eine CD-Plastikhülle hervor. „Ich sage nur: Archie Miles, Paris Concert 1971“
Paul Kragen fällt die Kinnlade herunter. Das ist in der Tat eine Sensation. Erst letzte Woche unterhielten Sie sich über jenes legendäre Konzert, dass der Meister Archie Miles 1971 in Paris gegeben hat und von dem die Schallplatte leider nicht mehr lieferbar ist. Und nun hat sein Kollege tatsächlich dieses Meisterwerk auf CD organisieren können. Peter Kopf ist zwar oft etwas tranig, wenn es aber um Musik geht, da ist er zu gebrauchen.
Paul Kragen fragt erst gar nicht, wo der Kollege die CD her hat. Dafür ist jetzt keine Zeit. Die Tür abschließen und die CD in den PC einlegen sind für ihn eins. Und schon geht es los mit den ersten Trompetenklängen von Archie Miles.
In den nächsten zweieinhalb Stunden geben sich die beiden Hauptkommissare voll und ganz der magischen Musik von Archie Miles hin. Sie lehnen sich entspannt in ihren Bürosesseln zurück und ihre Augen bekommen einen verzückten Glanz. Gelegentlich bricht es aus ihnen heraus und sie schnippen und summen einzelne Passagen des Konzerts mit.
Paul Kragen und Peter Kopf, die seit fast zwanzig Jahren ein Team sind, haben schon bald ihre gemeinsame Liebe zur Jazzmusik entdeckt und es ist ihnen im Laufe der Jahre zu einer lieben Gewohnheit geworden, ihre Arbeitstage mit dem gemeinsamen Anhören von Jazz-CDs zu starten. Wohingegen sie in der letzten Stunde des Bürotags sich zumeist durch aktives Musizieren – Paul Kragen an der Klarinette, Peter Kopf an den Keyboards – in den Feierabend einschwingen. Die Instrumente dazu haben sie stets griffbereit im Büroschrank gelagert.
Doch Feierabend ist jetzt noch nicht. Die letzten Takte von Archie Miles aus den PC-Lautsprechern verklingen. Paul Kragen steht auf und beginnt, den zweiten Kaffee des Tages zu brühen.
Peter Kopf holt die Gießkanne aus dem Schrank und wässert den Gummibaum neben dem Faxgerät und danach das Grünzeug auf dem Fensterbrett. „Wie war es gestern in Rothenburgsort am Tatort?“, fragt er seinen Kollegen.
„Lass uns später darüber reden, Peter! Ich muss jetzt erst noch einen Blick in die Blöd-Zeitung werfen.“ Paul Kragen nennt das große deutsche Boulevardblatt gerne „Blöd-Zeitung“ und drückt so scherzhaft aus, dass er intellektuell über diese Art von Journalismus erhaben ist. Aber der Sportteil der „Blöd-Zeitung“ ist gut und gestern war Europacup. „Gestern war Europacup“, fährt Paul Kragen fort, „und ich konnte wegen der Scheißrentnerin die Spiele nicht sehen.“
„Ist mir recht“, antwortet Peter Kopf, „dann kann ich mich im Internet noch um die Aktienkurse kümmern.“
„Ach, mach dir doch um die Börse keinen Kopf, Peter.“ Paul Kragen liebt diese kleinen Wortspiele mit dem Namen seines Kollegen. „Und über die ermordete Rentnerin, sprechen wir dann in der Kantine.“
Peter Kopf schaut seinen Kollegen missbilligend an.
Paul Kragen grinst. „Das mit der Kantine war nur ein Scherz, lieber Kollege. Du weißt doch: Mittagszeit ist Mittagszeit. Da wird nicht über die Arbeit geredet.“
Nach dem Mittagessen – Peter Kopf hatte Labskaus, Paul Kragen Leberspieß mit Kartoffelpüree – sitzen die beiden Polizeibeamten noch zurückgelehnt bei einer Tasse Kaffee und etwas Gebäck am kleinen Bistrotisch in der Ecke ihres Büros beisammen und tauschen sich über die Neuigkeiten im Polizeipräsidium aus. Peter Kopf hat gehört, dass Christel Neugebauer, die Sekretärin vom Chef, etwas mit dem kleinen Alfred aus dem Archiv laufen hat. Paul Kragen hat an dieser Geschichte so seine Zweifel, immerhin ist die Neugebauer mindestens einen Kopf größer als der kleine Alfred, aber Peter Kopf gibt zu bedenken, dass es auf die Größe des Körpers nicht ankomme.
Nach einer Weile wechselt Peter Kopf das Thema. „Sag mal, Paul, wie war es gestern am Tatort?“
Paul Kragen steht auf, bewegt sich zu seinem Schreibtisch, greift zur neuesten Ausgabe der Hamburger Woche und wirft sie seinem Kollegen, der auch aufgestanden ist, auf den gegenüberliegenden Schreibtisch. „Unsere Presse weiß schon wieder über alles Bescheid.“
Peter Kopf liest halblaut: „Mit dem Frotteegürtel erwürgt. Brutaler Mord an Rentnerin in Rothenburgsort. Ein Bericht der Tatort-Reporterin Anja Wieder.“ Dann betrachtet er eindringlich die Abbildungen der toten Frau. „Woher haben die die Fotos?“
„Diese Tatort-Reporterin, wie sie sich nennt, hat mich reingelegt“, antwortet Paul Kragen, „sie hat so getan, als wäre sie eine Fotografin von uns. Ich habe mich zwar etwas gewundert, weil ich dieses junge Ding bei uns noch nie gesehen habe, aber ich habe sie ausführlich alles fotografieren lassen.“
„Die Meute von der Presse wird auch immer raffinierter.“
„Das kannst du laut sagen, Peter. Aber lass uns doch mal zusammenfassen, was wir über den Fall haben.“
„Ja, was haben wir über den Fall?“
„Leider nicht viel“, seufzt Paul Kragen. „Die Tote wurde erwürgt, wie du ja schon gelesen hast. Das Motiv ist unklar; Raubmord scheidet aus. Die Wertsachen der alten Dame wurden nicht angerührt. Die Tatwaffe war ein weißes Frotteeband, keine Fingerabdrücke an der Tatwaffe.“
„Fingerabdrücke auf Frottee sind auch schwer möglich“, wirft Peter Kopf ein.
„Du sagst es, lieber Kollege“, entgegnet Paul Kragen etwas verärgert über die Besserwisserei von Peter Kopf.
„Wurden denn in der Wohnung sonst Fingerabdrücke gefunden?“
„Jede Menge. Die Spurensicherung ist noch dabei sie zuzuordnen.“
„Na ja, dann haben wir wenigstens etwas.“ Peter Kopf seufzt jetzt auch und gibt Paul Kragen die Zeitung zurück.
Paul Kragen legt die Zeitung oben auf den unbearbeiteten Stapel auf seinem Schreibtisch ab. Er hält kurz inne und nimmt noch einmal die Hamburger Woche vom Stapel. Sein Blick fällt auf eines der Tatort-Fotos.
„Oha, ich glaube, ich hab’s!“, ruft er aus und wirft die Zeitung wieder seinem Kollegen hin. „Das Foto ganz rechts. Das ist es!“
Peter Kopf beugt sich über das Foto. Im Vordergrund liegt die erwürgte Dame vor einer rentnerinnentypischen Wohnzimmersofagarnitur. Peter Kopf runzelt die Stirn. „Ich kann nichts Besonderes erkennen, Paul.“
Paul Kragen atmet tief ein. „Da auf dem Couchtisch, was siehst du dort?“
„Ich sehe eine Vase und daneben ein Stück zerknittertes Geschenkpapier“, entgegnet Peter Kopf.
„Das, was du als Geschenkpapier ansiehst, lieber Kollege, das ist Verpackungsmaterial. Und was denkst du wohl wovon diese Verpackung stammt? Beweg mal deinen Kopf, Peter!“ Paul Kragen grinst leicht in sich hinein, ob dieses gelungenen Aperçus zum Namen seines Kollegen.
Peter Kopf runzelt seine Stirn und starrt das Bild an.
„Und kannst du es erkennen?“ fragt Paul Kragen mit Ungeduld in der Stimme.
„Sieht aus, wie eine Eisverpackung“, antwortet Peter Kopf.
„Bingo. Das ist ganz eindeutig das Verpackungsmaterial von Eiskrem. Ich möchte wetten, dass unsere Kollegen von der Gerichtsmedizin noch Eiskrem im Magen der Toten finden werden. Die alte Dame hat sich vor ihrem unerwarteten Tod noch etwas kühles Süßes gegönnt.“ Paul Kragen steht auf und tritt neben seinen Kollegen.
Peter Kopf nickt. „Okay, Eiskrem. Ja und?“ Er wendet sich zu seinem Kollegen um und blickt ihn fragend an.
„Der Tote im Kühlwagen“, flüstert Paul Kragen.
Jetzt weiß Peter Kopf, wovon sein Kollege spricht. Vor drei Wochen wurde in St. Pauli direkt an den Landungsbrücken im Kühlraum eines abgestellten Auslieferungswagens für Speiseeis ein Toter gefunden. Der Tote wurde als der Fahrer des Wagens identifiziert, er war durch Erfrieren gestorben. Kragen und Kopf, die beiden Hauptkommissare, konnten in diesem Fall ermitteln, dass es kein Unfall, sondern ein Mord war. Der Eiswagenfahrer hatte mit einem stumpfen Gegenstand einen übergebraten bekommen und war dann bewusstlos in den Kühlraum seines eigenen Lieferwagens geschleift worden, wo ihn dann die Temperaturen von minus dreißig Grad endgültig dahingerafft hatten.
„Du meinst, zwischen den beiden Fällen besteht ein Zusammenhang?“, fragt Peter Kopf.
„Peter, der Zusammenhang ist ganz offensichtlich. Zweimal innerhalb eines Monats wird eine Leiche neben Eiskrem aufgefunden, zweimal gibt es kein Motiv und zweimal keine Fingerabdrücke an der Tatwaffe.“
„Moment mal, bei dem Kühlwagenmord haben wir überhaupt keine Tatwaffe sicherstellen können.“
„Das haben wir doch. Wir haben den stumpfen Gegenstand, mit dem der Eiskremfahrer betäubt wurde, zwar nicht gefunden. Der ist aber nicht die Tatwaffe. Die Tatwaffe ist der Eiskremwagen selber, an ihm ist der arme Verkaufsfahrer gestorben. Und wir haben außer denen vom Opfer keinerlei Abdrücke an dem Wagen gefunden.“
„Ja, weil der Fahrer eine Stunde vor seinem Tod in der Waschstraße war. Das haben wir doch anhand der Quittung im Handschuhfach herausgefunden.“
„Benutze doch mal deinen Kopf, Peter! Die Quittung hat der Täter ins Handschuhfach gelegt, um zu vertuschen, dass er den Eiswagen nach der Tat gründlich gereinigt hat. Wir haben es mit einem besonders raffinierten Täter zu tun, der nach der Tat alle Fingerabdrücke wegwischt.“ Paul Kragen hat sich jetzt in ein polizeiliches Ermittlungsfieber hineingeredet. „Die fehlenden Fingerabdrücke sind zusammen mit der Eiskrem am Tatort der Modus operandi unseres Mörders. Peter, wir haben es mit zwei Morden zu tun, die von ein und demselben Täter begangen wurden. Und wir sind ihm auf der Spur.“
Paul Kragen springt unvermittelt auf, schnappt sich seinen weißen Trenchcoat und eilt zur Tür.
„Wo willst du hin?“, ruft Peter Kopf ihm zu.
„Ich fahre zur Redaktion der Blöd-Zeitung“, antwortet Paul Kragen schon im Türrahmen stehend, „bei der Jagd nach dem Hamburger Serienkiller brauchen wir die Unterstützung der Presse. Und die Presse braucht ein Bild von mir – dem Mann, der den Eiskremmörder zur Strecke bringt.“
Fortsetzung folgt nicht
Siehe auch:
Anjas Aufstieg (4.Teil)
Anjas Aufstieg (3.Teil)
Anjas Aufstieg (2.Teil)
Anjas Aufstieg (1.Teil)