Besuch beim Vater

Auch an diesem Donnerstagabend verlasse ich um zwanzig vor acht das Seniorenwohnheim, das seit einem knappen Jahr meinen Vater beherbergt. Und wie jedes Mal gehe ich zu Fuß zurück zu meiner im gleichen Stadtviertel gelegenen Wohnung. Erleichtert sauge ich die frische Herbstluft in mich hinein.

Der Besuch beim Vater war anstrengend. Heute hat er seinen letzten Zahn verloren. Und obwohl es ihm klar sein musste, dass dieses Ereignis irgendwann eintreten würde, so war mein Vater darüber doch sehr traurig. Es gelang mir nicht, ihn aus seiner Niedergeschlagenheit herauszureißen.

Den Schmerz über den Verlust des letzten Zahnes kann ich mitempfinden. Viel hat mein Vater jetzt nicht mehr. Irgendwann verlieren wir alles wieder, was wir uns im Laufe eines Lebens mühsam angeeignet haben. Zuerst unsere Jugend, unsere Kraft, dann unsere Haare und unsere Zähne, oder umgekehrt; irgendwann verlieren wir den Lebensmut und schließlich lassen wir das Leben selbst zurück und fahren ein in den Himmel, ins Nirwana oder einfach in die Grube. So ist das.

Für ein Gebiss ist kein Geld da. Die Rente meines Vaters wird fast komplett für das Altenheim aufgebraucht. Mein Vater sprach zwar mal von einem Gebiss, aber ich konnte ihn davon überzeugen, dass er keines braucht. Und in seinem Alter schon mal gar nicht.

Okay, das Sprechen ohne Zähne ist etwas schwierig. Man versteht meinen Vater kaum. Eigentlich versteht man ihn gar nicht. Bis vor Kurzem noch hat er die wichtigen Dinge immer aufgeschrieben. Das geht nun nicht mehr, die Hände sind zu zitterig.

Mir macht es nichts aus, wenn ich meinen Vater nicht verstehe. Die Geschichten aus dem Heim haben mich sowieso noch nie interessiert. Ich lasse ihn bei meinen Besuchen brabbeln. Die zehn Minuten, die ich bei ihm bin, gehen vorbei. Und danach wird er wohl die Wand anbrabbeln. Oder was weiß ich!

Aber ich habe meinen Vater regelmäßig besucht. Einmal die Woche, immer donnerstags, von halb acht bis zwanzig vor acht, so dass ich dann zur Tagesschau wieder zu Hause gewesen bin. Er hat sich jedes Mal über mein Kommen gefreut und auch für mich war es meistens erfreulich.

Heute war allerdings mein vorerst letzter Besuch bei ihm. Es ist jetzt nicht mehr nötig, dass ich nach ihm sehe. Es ist vorbei. Es bringt mir nichts mehr.

Ich blicke zur Uhr als ich die Wohnungstüre bei mir aufschließe. Vier Minuten vor acht. Ich werfe meinen Mantel hastig über den Sessel im Flur, eile ins Wohnzimmer zur Glasvitrine und legen den Zahn, den ich den ganzen Weg über noch in der Hand gehalten habe, in das oberste Fach zu den anderen der nun endlich vollständigen Sammlung. Ein kurzer Wärmeschauer der Zufriedenheit überfällt mich. Doch dann muss ich mich beeilen. Ich möchte mir noch vor der Tagesschau die Hände waschen.


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