Anjas Aufstieg (2. Teil)

Frottee

Was bisher geschah: Die junge Anja Wieder träumt von einer Karriere als Journalistin. Da eröffnet sich für sie unerwartet eine Chance. In Hamburg-Rothenburgsort ist eine Rentnerin ermordet worden und sie soll für die Wochenzeitung, bei der sie als Korrektorin arbeitet, einen Artikel darüber verfassen.

„Halt! Hier dürfen Sie nicht durch!“

Der Jüngling, der sich Anja am Fuß des Treppenhauses entgegenstellt, versucht ein strenges Gesicht aufzusetzen, was ihm aber nicht so recht gelingen will. Einzig seine grüne ordentlich gebügelte Uniform macht Anja klar, dass hier nicht ein ungezogener Teenager aus der Nachbarschaft vor ihr steht, sondern ein leibhaftiger Polizist.

Die junge Korrektorin brennt darauf, ihre Geschichte über den Mord an der Rentnerin in Angriff zu nehmen, da will sie sich von einem solchen Nachwuchs-Cop, der noch nicht mal einen anständigen Schnäuzer hat, nicht aufhalten lassen. Sie muss unbedingt in den dritten Stock zum Tatort. Geistesgegenwärtig setzt sie ihr freundlichstes Lächeln auf.

„Ich muss dringend nach oben. Ich wohne hier.“ Anja schaut dem Polizeijungen tief in die Augen und setzt ein flehentliches „Bitte!“ nach.

Das verfehlt seine Wirkung nicht. Der junge Polizist läuft rot an, will etwas sagen, was bei ihm nur zu einem unverständlichen Gurgellaut führt, und tritt dann wortlos zur Seite. Anja nutzt das und rennt schnell an ihm vorbei, weiter die Treppe hoch.

„Ich heiße Klaus-Dieter Pöttenkötter“, ruft es hinter ihr her, „wie heißen Sie?“

Anja muss diese Frage unbeantwortet im Treppenhaus stehen lassen, denn sie ist schon oben angelangt. Die Tür neben dem Klingelschild von Erna Rossnagel, der toten Rentnerin, steht sperrangelweit offen. Anja tritt hinein und kramt dabei ihre hochmoderne Digitalkamera, die sie sich von ihrem letzten Weihnachtsgeld geleistet hat, aus ihrer Umhängetasche hervor.

Ein groß gewachsener Mann in einem weißen Trenchcoat kommt im Flur auf Anja zu. „Ah, da sind sie ja endlich! Los machen sie hin, fotografieren sie die Leiche, bevor uns die alte Dame verwest!“, schnauzt er. „Dass die uns auch immer so junge Dinger schicken müssen“, grummelt er zu sich selbst und verschwindet in einem Raum. Anja hat den Typ, der hier wohl der Chef vom Ganzen ist, schon einmal gesehen, weiß aber nicht wo. Egal, jedenfalls hält er sie offenbar für die Polizeifotografin und diese Chance will Anja nutzen.

Sie folgt dem Oberpolizisten und sieht in dem Raum ungefähr ein Dutzend Männer mit und ohne Polizeiuniform, die eine auf dem Boden liegende toten Körper betrachten. Die Männer treten etwas auseinander, so dass Anja an die Leiche heran kann.

Die Leiche sieht nicht gut aus. Sie ist weiblich und zwischen 70 und 80 Jahre alt. Ihr Gesicht hat eine grau-blaue Färbung. Um den Hals hat sie ein weißes Frotteeband geschlungen, was wohl für die ungewöhnliche Gesichtsfärbung verantwortlich ist. „Frottee wird jetzt am Ende mit zwei e geschrieben“, schießt es der jungen Korrektorin durch den Kopf. Bei ihrer Zeitung wurde vor Kurzem auf die neue Rechtschreibung umgestellt und Anja muss immer die neuen Formen parat halten.

„Doch hier geht es nicht um Rechtschreibung, hier geht es um meine Story“, ruft sie sich selbst im Stillen zur Ordnung. Und sie tut das, was hier in diesem Moment von ihr erwartet wird, sie fotografiert die Leiche, von allen Seiten, in der Totalen, ganz nah, von hinten, von vorne, von oben, von unten.

„Okay, das dürfte reichen, Kollegin“, lässt der Trenchcoatmann vernehmen, „machen sie noch ein paar Schnappschüsse von dem Zimmer hier, damit der Kadaver endlich rausgetragen werden kann!“ Unvermittelt zückt er sein Handy und spricht etwas für Anja Unverständliches hinein. Doch jetzt fällt ihr ein, wo sie den Kommissar schon einmal gesehen hat, in einem Werbespot für eine Telefonfirma.

Nachdem Anja den Raum ausfotografiert hat, würde sie gerne noch einige Fragen zum vermutlichen Tathergang stellen, aber ihr ist klar, dass es mit ihrer Rolle als Polizeifotografin nur schwer vereinbar ist, am Tatort Vernehmungen durchzuführen. Außerdem kann jeden Moment die wirkliche Polizeifotografin kommen und sie auffliegen lassen. Also packt sie ihre Kamera zusammen und verabschiedet sich von den anwesenden Polizeikräften mit einem kurzen „Ich geh dann mal.“ und schon ist sie draußen aus dem Leichenzimmer und aus der Wohnung. Sie hat Supernahaufnahmen von der Toten, die nimmt ihr niemand mehr. Der Chefredakteur wird Augen machen.

Unten im Treppenhaus hält Klaus-Dieter Pöttenkötter noch immer tapfer Wache. Im Vorbeigehen, ohne ihn anzusehen, fragt Anja: „Klaus-Dieter, stehst du im Telefonbuch?“

„Äh… ja, unter Erwin Pöttenkötter. Das ist mein Vater“, kommt es zögerlich zurück.

„Okay, ich ruf‘ dich an!“ sagt Anja und verschwindet durch die Haustür. Zurück lässt sie einen leicht verwirrten Jungpolizisten.

Fortsetzung folgt

Siehe auch:
Anjas Aufstieg (1.Teil)


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