Anjas Aufstieg (3. Teil)

Ein gemütlicher Abend

Was bisher geschah: Die junge Anja Wieder, Korrektorin bei einer kleinen Hamburger Wochenzeitung, wird von ihrem Chefredakteur Randolf Seiber beauftragt, einen Bericht über den Mord an einer Rentnerin zu schreiben. Anja gelingt es am Tatort Fotos von der Leiche zu schießen, weil man sie irrtümlicherweise für die Polizeifotografin hält. Auch mit dem Jungpolizisten Klaus-Dieter Pöttenkötter knüpft sie am Tatort erste Kontakte.

Der Chefredakteur Randolf Seiber wirft seinen Trenchcoat und seinen Aktenkoffer achtlos auf den Sessel im Wohnzimmer seines kleinen Stadtapartments. Er geht zum Wandschrank und holt eine Flasche Burgunder, ein Glas und einen Korkenzieher. Dann lässt er sich auf das Sofa plumpsen.

Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Einen Tag voller Sitzungen, Konferenzen und Meetings. Und alle hatten was zu quatschen, hatten Standpunkte, wollten Anregungen geben, wollten ihre Positionen einbringen. „Dabei bin ich doch der Chef“, denkt er. „Ich muss mir doch von niemandem sagen lassen, wie man eine Zeitung macht. Ich habe schon Zeitungen gemacht, da haben die noch auf der Straße gegen den Vietnam-Krieg demonstriert.“

Randolf Seiber hat diese ewigen Diskussionen satt. Ja früher, da war er auch so, da hatte er eine unbändige Freude daran, die Richtigkeit seiner Meinung in vielen Diskussionen zu beweisen. Da wollte er andere überzeugen, da wollte er die Welt verändern. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es gibt jetzt andere Aufgaben. Das Haus, das Urlaubshaus, das Stadtapartment, die Yacht müssen unterhalten werden. Die Ausbildung seiner Söhne und die Kleider seiner jungen Frau müssen bezahlt werden.

Ihm kommt zu Bewusstsein, was er bisher in seinem Leben alles erreicht hat, und ein wärmendes Gefühl der Zufriedenheit überfällt ihn. Doch jäh wird diese Stimmung unterbrochen, als er wieder an diese miesmacherischen ewig nörgelnden Mitarbeiter in seiner Redaktion denken muss. Er kann diese Litaneien vom angeblichen Verfall unserer Gesellschaft nicht mehr hören. Unserem Land geht es gut. Es hat eine gute Regierung unter einem guten Bundeskanzler und damit basta. „Es wird Zeit, dass ich das ein für allemal deutlich in der Redaktion klarstelle“, spricht er zu sich selbst, „schließlich bin ich der Chef.“

Die Gedanken von Randolf Seiber wandern zu seiner jungen Korrektorin Anja Wieder. Sie ist anders. Sie weiß noch seine Autorität zu respektieren und seinen Anweisungen zu folgen. Dieses dankbare Glitzern in ihren Augen, als er sie nach Rothenburgsort zu der toten Rentnerin schickte, hat ihn dann doch für die viele Unbill des Tages entschädigt. Und sie ist so jung, so unschuldig.

Und sie hatte gute Arbeit geleistet. Eine Stunde, nachdem er ihr den Auftrag erteilt hatte, war sie schon vom Tatort zurück. Randolf Seiber war gerade dabei Trenchcoat und Aktenkoffer zusammenzupacken, als sie an seine Bürotür klopfte. Obwohl eigentlich alles in ihm nach Hause drängte, bat er sie herein und forderte sie auf, zu berichten. Anja nahm im Besucherstuhl seines Büros Platz und erzählte von ihren Beobachtungen am Tatort, während er sich mit geschlossenen Augen in seinem Stuhl zurücklehnte und sich dem angenehmen Wohlklang ihrer jungfräulichen Stimme hingab.

Als Anja geendet hatte, legte sie ihm die Fotos auf den Schreibtisch. Randolf Seiber öffnete die Augen, fuhr im Sitz nach vorne und starrte ungläubig auf das, was da vor ihm lag: Schnappschüsse von der Leiche. Das Mädchen war großartig! Da war sie in ihrem ersten richtigen Auftrag unterwegs und brachte gleich exklusive Fotos von einer erdrosselten Rentnerin mit. Randolf Seiber wollte aufspringen und sie umarmen, er schaffte es aber gerade noch, sich zu bremsen und ihr eine chefredakteursgemäße Form der Anerkennung zu zollen.

„Sehr professionell, Anja, wirklich sehr professionell. Sicherlich das eine oder andere könnte man noch verbessern, aber Sie sind auf dem richtigen Weg. Am besten Sie setzen sich jetzt gleich noch hin und schreiben die Story auf, damit sie morgen früh zur Redaktionsschlusskonferenz fertig ist.“

Randolf Seiber erblickte danach wieder dieses besagte Glitzern in den Augen seiner jungen Korrektorin und er lächelte huldvoll. Als Anja dann gegangen war, schnappte er sich schnell Trenchcoat und Aktenkoffer. In den Letzteren packte er hastig die Leichenfotos, die Anja auf seinem Schreibtisch gelassen hatte. Und ab ging es nach Hause; er wollte sich einen gemütlichen Abend machen.

Die Fotos.

Randolf Seiber langt herüber zu seinem Aktenkoffer, öffnet ihn und kramt Anjas Ablichtungen heraus. Das oberste Foto zeigt die tote Frau in der Totalen. Eine alte Dame in ihrem Blümchenkleid und ihrer Rentnerinnenstrickjacke von hinten fotografiert liegt friedlich auf einem flauschigen Teppichboden. Eigentlich ein langweiliges Motiv, wäre da nicht dieser merkwürdig abgewinkelte Kopf, der sofort Randolf Seibers Interesse findet.

Er legt das Foto auf seinen kleinen Wohnzimmertisch und nimmt interessiert das nächste Bild zur Hand. Die Dame nun von vorne. Randolf Seiber nimmt sofort mit Kennerblick die bläuliche Gesichtsfärbung in Augenschein und ein wohliges Gefühl übermannt ihn. Die Frau ist erwürgt oder erdrosselt worden.

Begierig greift er zur nächsten Aufnahme. Das Gesicht von nahe. Randolf Seiber schaut in zwei Augen, die aus ihren Höhlen herauswollen. Er sieht den weißen Schaum, der um den offen stehenden Mund eine kreisförmige Kruste gebildet hat. Er erspäht in der Tiefe der Mundhöhle die Zunge, die sich im Oberkiefer verkantet hat. Randolf Seiber fühlt, dass er dem Tod ins Antlitz blickt. Er spürt, dass ihm seine Hose zu eng wird und öffnet behutsam seinen Reißverschluss.

Damals als junger Polizeireporter hatte er viel schlimmere Bilder gesehen. Wenn irgendwo eine Leiche auf dem harten Asphalt der Hamburger Strassen gefunden wurde, er war dabei – in vorderster Front – und seine Kamera hielt alles fest. Er hatte damals in Journalistenkreisen den Namen ‚Speedy‘, weil er meistens als Erster am Tatort war, oft noch vor der Polizei. „Du musst am Tatort sein, wenn die Leiche noch warm ist“, so charakterisierte er zu jener Zeit scherzhaft übertrieben sein Berufsethos.

Irgendwann bemerkte er, dass ihn all die Leichen sexuell stimulierten. Seine Regungen, die ihn damals beim Sortieren der Leichenfotos an seinem kleinen Reporterschreibtisch regelmäßig übermannten, irritierten ihn zunächst und lange leugnete er vor sich selbst, sein sexuelles Interesse an Abbildungen von verstümmelten Körpern. Und als es immer deutlicher wurde, als er immer mehr nach Leichenfotos lechzte, wie ein Alkoholiker nach seinem täglichen Fusel, als ihn nichts mehr sonst erregte und bewegte, als er rastlos von einem Unfallort zum anderen hetzte, um immer an frische Fotos ranzukommen, musste er sich selbst diese Neigung eingestehen.

Randolf Seiber lehnt sich zurück und erinnert sich, dass er sich damals für Wochen von seiner Arbeit abmeldete, dass er sich gegenüber nur noch Ekel empfand und er sogar zeitweise mit dem Gedanken an Selbstmord spielte. Einen Umschwung in seinem Leben brachte dann eine Sendung im Fernsehen, die er damals sah. Da wurde ein erwachsener Mann gezeigt, der in Windeln herumlief, und auch jederzeit den Inhalt seiner Blase und seines Darmes in eben diese Windeln entleerte – auch im Büro. Der Mann wurde dadurch sexuell erregt und empfand das als völlig normal. So normal, dass er darüber vor der Fernsehkamera bereitwillig Auskunft gab. Der Mann hatte eine gut aussehende Ehefrau, zwei nette Kinder und war beruflich, soweit sich Randolf Seiber erinnert, in durchaus höherer Position tätig. Und die Frau und Kinder wussten auch Bescheid und sprachen ebenfalls offen darüber. Der Mann nannte sich selbst einen Perversen und lachte dabei.

Randolf Seiber wurde beim Anschauen jener Sendung bewusst, wie vergleichsweise zurückhaltend und unauffällig seine kleine Perversion doch war und er lernte mit ihr zu leben. Offen darüber sprechen so wie der Mann aus der Fernsehsendung mochte Randolf Seiber über seine sexuelle Vorliebe allerdings nie. Er nahm sich lieber jedes Mal diskret die Abzüge aus der Redaktion mit nach Hause und machte sich dort einen gemütlichen Abend für sich allein.

Als er nach einigen Jahren dann ins politische Ressort wechselte, nahm sein Interesse an Leichenfotos auch spürbar ab und er entwickelte andere sexuelle Präferenzen. Trotzdem, als Reminiszenz an seine Zeit als junger Straßenreporter gönnt er sich hin und wieder mal einen Abend mit Leichenfotos und genießt ihn. So wie auch den heutigen Abend.

Auch das nächste Foto nimmt Randolf Seiber gefangen. Der Hals in Großaufnahme. Ein weißer Riemen schnürt ihn zu. Randolf Seiber kann oberhalb des Riemens die rot gefärbten Adern erkennen, die mit aller Kraft herausdrängen aus dem verengten Halsgefäß. Er ist fasziniert von dem schönen Muster, das die Adern auf der Haut bilden, gerade auch im Zusammenspiel mit dem Weiß des Riemens. Ein Ausruf der Bewunderung entfährt ihm und geht über in einen Lustschrei. Seine Erregung ist jetzt kurz vor ihrem Höhepunkt.

Mit seiner freien linken Hand grapscht er hastig zur nächsten Fotografie. Dabei ist er unachtsam und stößt gegen das gefüllte Rotweinglas. Das Glas kippt um und zerbirst auf der Tischplatte. Die Glasscherben und der Burgunder verteilen sich auf dem Wohnzimmertisch. Randolf Seiber ist vom Schock gelähmt. Die Fotos, die ihm eben noch so viel Freude gespendet haben, sind jetzt vom Rotwein durchnässt. Und die sich noch immer ausbreitende Burgunderlache nähert sich auf einer Seite sogar dem Rand des Tisches und droht auf den handgewebten Chiwa-Teppich zu laufen.

Randolf Seiber hat sich aus seiner kurzzeitigen Schockstarre gelöst. Er langt mit seiner linken Hand reflexartig zur Tischkante, um den Weinfluss zu stoppen, und muss feststellen, dass auch Scherben schon den Weg zur Tischkante gefunden haben. Die Scherben bohren sich in die Finger und die Handfläche, noch ehe Randolf Seiber sie laut aufschreiend zurückzieht. Danach fließt der Burgunder ungehindert auf den usbekischen Teppich, und Randolf Seiber, vom Schmerz gepeinigt, krallt seine blutende Hand in die flauschige Seitenlehne des Sofas.

 

Eine Stunde später sind die Spuren seines Missgeschickes bei weitem noch nicht beseitigt, aber Randolf Seiber hat wieder einigermaßen die Ordnung in seinem aparten Apartment hergestellt. Erschöpft lässt er sich aufs Sofa fallen. Sein Blick fällt auf den Waschmittelfleck, der sich jetzt an Stelle des Blutes auf der Lehne breit macht. Der wird wohl weggehen, schließlich kann er das Sofa nicht einfach aussortieren, dafür war es zu teuer. Genau wie der Chiwa unter seinen Füßen, auf dem ihn noch immer ein CD-großer Burgunderfleck entgegenleuchtet, obwohl er ein Pfund Salz darauf gekippt hat und später mit seiner schmerzenden Hand abgesaugt hat. An den Teppichfleck muss seine Putzfrau morgen noch mal mit einem Spezialreiniger ran.

Randolf Seiber betrachtet missmutig seine von Mullbinde umhüllte linke Hand. Das Herausziehen der zahlreichen Scherben aus den Fingern und der Handfläche hat verdammt wehgetan. Danach hat er die gesamte Hand mit dem Verbandsmaterial aus dem Erste-Hilfe-Kasten dick umwickelt, so gut wie das mit nur einer freien Hand ging. Ihm wird klar, dass die verletzte Hand zum Anschauen der Fotos nicht mehr zu gebrauchen ist.

Die Fotos liegen föngetrocknet auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet vor ihm. Die meisten von Ihnen sind von den Rändern her gewellt. Randolf Seiber nimmt eines und hält es unter seine Nase. Es riecht noch immer nach Burgunder. Er verzieht das Gesicht und legt das Foto zurück auf den Tisch.

Danach geht er die Bilder noch einmal einzeln durch. Die alte Dame auf dem Teppich. In der Totalen. Von der linken Seite. Von der rechten Seite. Das Blümchenkleid. Die herausquellenden Augen. Der Riemen. Die Strickjacke.

Die Fotos sind gut. Zweifellos. Aber Randolf Seiber kommt nicht mehr in Stimmung. Ihm wird schmerzlich bewusst, wie sehr ihm eine Hand fehlt. Das Foto mit dem Oberkörper der toten Rentnerin, das er gerade in der Hand hält, wirft er verärgert auf den Bilderhaufen vor ihm. Mit einer wütenden Bewegung seines rechten Armes wischte er die Fotografien von seinem Wohnzimmertisch. Ein lauter Fluch kommt dabei aus ihm heraus.

Dann bricht der Staudamm, der seine Tränen bisher zurückgehalten hat. Randolf Seiber muss weinen und wirft sich schluchzend mit dem Gesicht nach unten in das Polster seines Sofas.

Nach zehn Minuten ist es vorüber. Randolf Seiber richtet sich auf. Das Sofapolster hat seine Tränen getrocknet und ihm eine Idee gebracht. Er steht auf, geht zum Regal und zieht dort ein Video heraus. Er schiebt das Video in den Recorder unter dem Fernseher, schnappt sich die Fernbedienung und macht es sich auf dem Sofa wieder bequem.

Gut, dass ihm noch das Video eingefallen ist, stellt er erleichtert fest. Obwohl er sich das Video schon oft angeschaut hat und es beinahe auswendig kennt, so ist er doch immer wieder von dem angetan, was auf ihm zu sehen ist. Das Video zeigt Randolf Seiber im Gespräch mit dem Bundeskanzler.

Randolf Seibers Gedanken tauchen für einen Moment ab in den Tag, als das Video aufgenommen wurde. Der Bundeskanzler war damals Spitzenkandidat für die bevorstehenden Bundestagswahlen. Randolf Seiber hatte in mehreren Leitartikeln seiner Zeitung die Tatkraft und das politische Augenmaß des Bundeskanzlers gewürdigt und hatte auch regelmäßig gegen die wirtschaftsfeindlichen Konzepte seines damaligen innerparteilichen Widersachers angeschrieben. Und so empfand Randolf Seiber es als Belohnung seines journalistischen Engagements, dass ihn eines Tages das Büro des Bundeskanzlers anrief und ihn zu einem Hintergrundgespräch in die Landeshauptstadt einlud, in der der Bundeskanzler zu jener Zeit als Ministerpräsident regierte.

Der Bundeskanzler empfing Randolf Seiber im Kaminzimmer der Staatskanzlei, bot ihm einen Platz in einem Sessel direkt vor dem wärmenden Kamin an und ließ sich ihm gegenüber nieder. Danach führte der Bundeskanzler in der ihm eigenen ausdrucksstarken Rhetorik seine politischen Konzepte aus und entwickelte mit entschlossenem Blick seine Visionen für das neue Jahrtausend. Randolf Seiber war fasziniert von der Energie und der Aura des Bundeskanzlers und er teilte ihm mit, wie sehr er sein politisches Schaffen bewundere. Der Bundeskanzler lächelte.

Im Folgenden lobte er die Leitartikel von Randolf Seiber und lud ihn ein, weiter mitzuwirken am Aufbau eines neuen Deutschlands. Dabei schaute der Bundeskanzler ihm ganz tief in die Augen. Randolf Seiber versprach, alles, was in seiner Kraft stehe, zu tun, um den Bundeskanzler in seinem politischen Kampf zu unterstützen.

Zum Abschied umarmte der Bundeskanzler ihn ganz intensiv. Randolf Seiber kann sich noch gut erinnern, wie sehr ihn das Gespräch und die abschließenden Berührungen mit dem Bundeskanzler erregt hatten. Er musste unmittelbar danach zur Toilette eilen, um sich dort zu befriedigen.

Zur Toilette geht Randolf Seiber jetzt nicht. Er ist schließlich ungestört mit dem Bundeskanzler. Seine Augen starren gebannt auf den Bildschirm. Der Bundeskanzler spricht gerade von Gerechtigkeit und Innovation. Und wie der Bundeskanzler spricht. Dieses Timbre. „Innovation“. Dabei richtet der Bundeskanzler seine stahlblauen Augen auf ihn. Randolf Seiber genießt diesen Moment. Der Bundeskanzler ist besser als jedes Leichenfoto. Und für den Bundeskanzler braucht man nur eine Hand.

So wird es für Randolf Seiber dann doch noch ein gemütlicher Abend.

Fortsetzung folgt

Siehe auch:
Anjas Aufstieg (2.Teil)
Anjas Aufstieg (1.Teil)


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert