Jetzt hat also das Bundesverfassungsgericht die Wahlgesetzgebung der schwarz-gelben Bundesregierung einkassiert. Das ist gut so.
Der Bundestag hatte ein neues Wahlrecht schaffen müssen, weil bereits das alte nicht verfassungsgemäß war. In einem Urteil von 2008 hatte das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ein neues Bundestagswahlrecht auferlegt, weil in bei den Bundestagswahlen das Phänomen eines negativen Stimmgewichts auftauchte; das bedeutet, eine Partei kann in bestimmten Konstellationen mehr Sitze im Bundestag erringen, wenn sie in einem Bundesland mit vielen gewonnen Direktmandaten weniger Zweitstimmen bekommt. Das Verfassungsgericht hatte bemängelt, dass dadurch eine Verfälschung des Wählerwillens stattfindet.
Bis Sommer 2011 sollte der Bundestag ein neues Wahlrecht schaffen – so die damalige Vorgabe des Bundesverfassungs-gerichtes. Der Bundestag hielt diese Frist nicht ein, musste vom Verfassungsgericht ermahnt werden, woraufhin die schwarzgelben Parteien (CDU/CSU/FDP) unter Ausschluss der Oppositionsparteien ganz eilig ein neues Wahlrecht zusammenzimmerten.
Dieses neue Wahlrecht wollte das Phänomen des negativen Stimmgewichtes dadurch beseitigen, dass es die bundesweite Verrechnung der Zweitstimmen abschaffte. Überhangmandate sollte es aber weiterhin geben, denn diese nutzen vor allem der größten Partei CDU/CSU. Weil aber eine nach Bundesländern getrennte Mandatsverteilung für eine kleinere Partei wie die FDP eher ungünstig wäre, weil sie dadurch in kleineren Bundesländern womöglich gar keine Mandate erreichen würde, wurde dann im neuen Wahlrecht eine bundesweite Reststimmenverwertung eingeführt, also durch die Hintertür doch wieder eine bundesweite Verrechnung der Zweitstimmen. Die Mehrheitsparteien im Bundestag haben sich also ein Wahlrecht zu ihrem eigenen Nutzen gebastelt – auf Kosten der demokratischen Repräsentation.
Das Verfassungsgericht hat nun konkret bemängelt, dass im neuen Wahlrecht das negative Stimmengewicht noch immer nicht beseitigt ist und dass das neue Wahlrecht eine zu große Zahl an Überhang-mandaten ermöglicht, die den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebe. Die Situation ist nun: die Bundesrepublik Deutschland hat aktuell keine Wahlregelung für ihr Parlament. Wenn die Regierungskoalition jetzt platzen würde und eine vorgezogenen Neuwahl des Bundestages erforderlich würde, dann hätten wir ein Problem.
Es muss daher nun wirklich dringend ein verfassungsgemäßes neues Wahlrecht geschaffen werden. CDU/CSU/FDP wollen dieses nun gemeinsam mit SPD und Grünen angehen, die Linke soll wie so oft außen vor bleiben. Durch die Ausgrenzung der Linkspartei ahnt man, dass die beteiligten Parteien weiterhin beabsichtigen, ein in erster Linie ihnen nützliches Wahlrecht zu schaffen. Und es ist zu fragen, ob man die Schaffung eines Wahlrechts für den Bundestag ausschließlich in die Hände der taktierenden Parteien legen sollte oder ob nicht besser ein überparteiliches Gremium aus Politik-wissenschaftlern erst einmal einen Entwurf erarbeiten sollte, der dann natürlich vom Bundestag als gewählter Repräsentanz des Volkes verabschiedet werden muss oder vielleicht sogar vom Volk direkt beschlossen werden sollte.
Wahlrecht von 1953
So mancher Leser dieses Textes wird bei den oben aufgeführten Begriffen wie „Zweitstimmen“, oder „Überhangmandate“ bereits abgeschaltet haben, weil er das alles nicht versteht. Das liegt aber nicht am Leser, sondern am bundesdeutschen Wahlrecht, das viel zu kompliziert ist. Und es ist deswegen so kompliziert, weil schon 1953, als es geschaffen wurde, die damaligen Regierungsparteien CDU, CSU, DP und FDP ein Wahlrecht für ihre Bedürfnisse herbeitaktiert haben. Die komplizierten Besonderheiten am 1953er Wahlrecht, das bis 2009 Gültigkeit besaß, waren:
- Stimmensplitting
Der Wähler konnte zwei diffenzierte Wahlvoten abgeben, eines für den Wahlkreis und eines für die Landesliste einer Partei.
Das Stimmensplitting nutzte der FDP, die in der Regel keine Chance auf Wahlkreismehrheiten hatte, so aber auch Stimmen von Wählern bekommen konnte, die für den Wahlkreis lieber einen Kandidaten mit Gewinnaussicht wählen wollten. Dadurch das die Landeslistenstimme als „Zweitstimme“ bezeichnet wurde, dachten viele Wähler auch, mit der „Zweitstimme“ müssten sie ihre zweitliebste Partei wählen, und das war und ist für viele konservativ gesinnte Menschen die FDP.
- Wahl über Landeslisten
Dass der Bundestag nicht über Bundeslisten sondern über Landeslisten gewählt wurde, entsprach dem Organisationsaufbau der CDU, die in den 1950er Jahren über keine wirksame Bundesorganisation verfügte. Die Landeslistenwahl ermöglichte auch den Auftritt der bayrischen Konservativen als eigenständige Partei CSU (inklusive der Bildung einer Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag, die durch Geschäftsordnungs-regelungen im selbigen durchgesetzt wurde).
- Bundesweite Verrechnung der Zweitstimmen
Trotz der Wahl über Landeslisten wurden die Zweitstimmen bundesweit verrechnet, dieses kam vor allen Dingen der kleinen FDP zugute, die bei einer nach Bundesländern getrennten Mandatsverteilung eine ihrem Wähleranteil zu geringe Repräsentanz im Bundestag erreicht hätte.
- 5%-Klausel
Die 5%-Klausel sah vor, dass bei der Mandatsverteilung für den Bundestag, nur die Parteien berücksichtigt wurden, die mindestens 5% der Zweitstimmen im Bundesgebiet erreicht haben. Diese Regelung erschwerte es neuen parteipolitischen Akteuren in den Bundestag zu kommen, weil die Wähler befürchten mussten, dass ihre Zweitstimmen für eine Kleinpartei verschwendete Stimmen sein könnten und daher lieber ihre Stimme einer Partei gaben, die sicher in den Bundestag einzog.
- Ausnahme von der 5%-Klausel durch den Gewinn von drei Direktmandaten
Parteien, die bei einer Bundestagswahl mindestens drei Direktmandate gewannen, waren von der 5%-Klausel ausgenommen. Ihre Zweitstimmenanteile gingen voll in die Mandatsberechnung ein, auch wenn sie weniger als 5% der Zweitstimmen holten. Von dieser Regelung profitierten die Deutsche Partei und die CSU als regionale Schwerpunktparteien, die sich nicht bundesweit dem Wählerwillen stellten und daher in Gefahr geraten konnten, die 5%-Hürde nicht zu überspringen.
- Wertlose Zweitstimmen bei erfolgreichen parteilosen Kandidaten
Diese Regelung ist weitgehend unbekannt, galt aber tatsächlich bis 2009. Hätte in einem Wahlkreis ein parteiloser Kandidat oder ein Kandidat einer Partei ohne Landesliste gewonnen, dann wären die Zweitstimmen der Wähler dieses Kandidaten in den Papierkorb gewandert, das heißt bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt worden. Die Wähler von parteilosen Kandidaten setzten sich also dem Risiko aus, dass ihre Zweitstimme komplett wertlos sein könnte.
- Kein Ausgleich von Überhangmandaten
Überhangmandate entstanden dadurch, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreismandate holte als ihr nach dem Stimmenverhältnis in dem Bundesland eigentlich zustand. Dieses Phänomen wurde durch die Möglichkeit des Stimmen-splittings (siehe oben) noch verstärkt, könnte aber in auch einem Einstimmen-Wahlsystem auftreten, vorausgesetzt die Verhältnis-wahl wird mit einer Wahlkreiswahl kombiniert. Gerade aber durch die Möglichkeit des Stimmensplittings konnte durch taktisches Wählen (Erststimme CDU, Zweitstimme FDP) Überhangmandate erzeugt werden. Überhangmandate widersprechen dem Prinzip der Verhältniswahl. Die meisten Bundesländer regulieren den verzerrenden Effekt der Überhangmandate dadurch, dass sie den nicht überhängenden Parteien Ausgleichsmandate zusprechen, um dadurch eine Sitzverteilung unter den Parteien gemäß der Wähleranteile zu gewährleisten. Das Bundestagswahlrecht von 1953 sah einen solchen Mandatsausgleich nicht vor und bevorteilte damit die großen Parteien CDU und SPD, aber auch die CSU.
Parteitaktischer Plunder
Das Wahlrecht von 1953 ist aber nun dank der umsichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes passé. Wir brauchen ein neues Wahlrecht. Es muss ein einfaches und gerechtes Wahlrecht sein. Und das geht nur, wenn man die oben dargestellten problematischen Kompenenten wie Stimmensplitting, Landeslisten, 5%-Klausel und Überhangmandate aus dem Wahlrecht entfernt. Die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems, die personalisierte Verhältniswahl, kann man beibehalten, aber der ganze parteitaktische Plunder muss weg.
Die Gebietskörperschaft, die zu wählen hat, ist die Bundesrepublik Deutschland. Also warum lässt man die Parteien nicht Bundeslisten aufstellen, wo dann auch tatsächlich die Spitzenkandidaten der Parteien oben auf den Listen und damit auch auf den Wahlzetteln stehen. Bei der letzten Wahl stand zum Beispiel die Spitzen-kandidatin der CDU, Bundeskanzlerin Angela Merkel, nur im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern auf dem Wahlzettel, Frank-Walter Steinmeier den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten, konnte man nur in Brandenburg auf dem Wahlzettel finden. Ein weiterer Effekt einer Ersetzung der Landeslistenwahl durch eine Bundeslistenwahl wäre, dass weniger Überhangmandate anfielen. Denn Überhangmandate gibt es nur, wenn eine der großen Parteien stark schwächelt und im Wahlgebiet fast keine Wahlkreise gewinnt. Was in einzelnen Bundesländern passiert, würde sich in einem einheitlichen Wahlgebiet Bundesrepublik Deutschland nicht so stark auswirken. So hätten bei der letzten Bundestagswahl, wäre dort nach Bundeslisten gewählt worden, CDU/CSU nur 16 (statt 24) Überhangmandate gewonnen.
Ein weiterer Verstärker für Überhangmandate ist die Möglichkeit des Stimmensplittings. Das lädt zu taktischen Spielen ein: die Wahlkreis-
stimme für eine große Partei und die Listenstimme für eine kleinere Partei aus dem gleichen politischen Lager. Eine Option, die von CDU- und FDP-Anhängern in der Vergangenheit leidlich genutzt wurde, aber auch der SPD und den Grünen nicht fremd ist. Oft ist es aber auch so, dass sich die Wahlbürger aus Unkenntnis bei den zwei Wahlstimmen vertun. Die für die Zusammensetzung des Bundes-
tages wichtigere Listenstimme wird auf den Wahlzetteln als „Zweitstimme“ deklariert, da kann man tatsächlich meinen, das sei die Stimme für die zweitliebste Partei. Besser wäre also das Prinzip: eine Wahl – eine Stimme.
Doch trotz Bundeslisten und Einstimmenwahl könnte es weiterhin noch zu Überhangmandaten kommen. Die könnte man aber, wie bereits erwähnt, proportional durch zusätzliche Mandate für die nicht überhängenden Parteien ausgleichen. Bei einer Bundeslistenwahl wäre der Mandatsausgleich einfacher vorzunehmen, als wenn man durch komplizierte Berechnungen, die nur Mathematiker verstehen, die Ausgleichsmandate auf die einzelnen Landeslisten verteilen müsste.
Und auch die 5%-Klausel muss weg. Eine solche Sperrklausel ist undemokratisch. Es ist nicht einzusehen, warum eine Partei, die 4% der Wähler hinter sich versammelt, nicht im Bundestag (mit 4% der Abgeordneten) vertreten sein soll. Die 5%-Klausel, die in Deutsch-
land nicht nur für den Bundestag, sondern auch für alle Landtage gilt, bewirkt regelmäßig, dass ein beträchtlicher Teil der Wähler parlamentarisch nicht vertreten ist, oder dass Anhänger von bestimmten Parteien, diese dann noch nicht wählen, um ihre Stimmen nicht in den Papierkorb wandern zu lassen. Und die 5%-Klausel führt auch dazu, dass Regierungen gebildet werden, die gar nicht die Mehrheit der Wähler gewonnen haben, sondern lediglich die Mehrheit der Wähler der parlamentarischen Parteien. Siehe unsere aktuelle Bundesregierung, die mit ihren 48,4% Wähler-stimmen sich nur deshalb auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann (die hätte sie nämlich auch ohne ihre Überhang-mandate), weil bei der letzten Bundestagswahl 6% der Wählerstimmen (nämlich die für die Kleinparteien unterhalb der 5%-Hürde) bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt geblieben sind.
Befürworter einer Sperrklausel führen ins Feld, man brauche eine Sperrklausel, damit das Parteiensystem nicht zu sehr zersplittere und dadurch eine Regierungsbildung verunmöglicht werde. Dabei wird gerne auf die Weimarer Republik verwiesen, wo wegen einer fehlenden Sperrklausel für den Reichstag keine stabilen Regierungen zustande gekommen seien. Diese Argumentation überzeugt nur bedingt. Sicherlich würde es in einem Parlament mit mehr Parteien schwieriger werden, eine Regierung zu bilden, aber niemand hat behauptet, dass die Demokratie eine einfache Regierungsform ist. Demokratie ist anstrengend, aber auch aller Anstrengung wert. Und der Verweis auf Weimar ist nicht stimmig. Dass in der Endphase der Weimarer Republik auf parlamen-tarischem Wege keine Regierungen mehr gebildet werden konnten, lag daran, dass im Reichstag drei Parteienblöcke (Weimarer Parteien, KPD, DNVP/NSDAP) vertreten waren, die wegen unüberbrückbarer Gegensätze untereinander nicht koalitionsfähig waren. Auch bei einer 5%-Sperrklausel hätten diese drei Blöcke sich gegenseitig neutralisiert. Auch aus verschiedenen bundesdeutschen Landtagen der 1980er Jahre kennen wir trotz 5%-Klausel, das Phänomen der drei nicht koalitionsfähigen Blöcke (CDU, SPD, Grüne), ebenso war die Regierungsbildung 2005 im Bund sehr schwierig, wegen der Blöcke CDU/CSU/FDP, SPD und Linkspartei. Um eine solche Neutralisierung dreier Blöcke im Parlament ganz sicher zu verhindern, bedürfte es schon einer 34%-Klausel, und die will nun wirklich niemand.
Ein einfaches Wahlrecht würde also so aussehen: Bundeslisten,
Ein-Stimmen-System, proportionaler Ausgleich von Überhang-mandaten, keine Sperrklausel. Ungeachtet dessen sollte man aber an den Ein-Personen-Wahlkreisen als personalisierter Komponente im Wahlsystem festhalten, denn dadurch wird innerhalb der Parteien für einen gewissen Regionalaustausch gesorgt, und vor allem können dadurch auch einzelne Querköpfe in den Bundestag gewählt werden, die bei der Listenaufstellung der Parteien wenig Chancen auf vordere Plätze haben (wie z.B. Hans-Christian Ströbele oder Peter Gauweiler).
Ein einfaches Wahlrecht muss her, weil es ein gerechtes Wahlrecht ist. Kommen wird ein solches Wahlrecht allerdings nicht. Die jetzt an der Entwicklung des neuen Wahlrechts beteiligten fünf Parteien, werden es verstehen, ihre ganz speziellen wahltaktischen Ansätze zu einer neuen Mischung zusammenzurühren. Und somit ist leider mit einem eher noch komplizierteren Wahlrecht zu rechnen.
Gut gesagt!!!
Pingback: Grüne wollen Linke bei Beratungen zum Wahlrecht dabei haben
Eine gute Recognitionsheuristik muß her bei einem solchen Beitrag und die sieht so aus: Die ersten fünf Zeilen lesen, dann scrollen bis zum Ende, feststellen das sich sowieso nichts ändern wird und gut is: Lebenszeitaufwand ca. 4 min (inclusive Kommentar schreiben).
Ein drei-faches Hurra auf das ein-fache Wahlrecht!!!
Lieber Lars Loeser, wenn ich mir die Mühe mache, eine ausführliche Argumentation für ein einfaches Wahlrecht zu entwickeln, dann darf ich doch von dir als
LoeserLeser erwarten, dass du dir mehr als vier Minuten Zeit für den Text nimmst. Es geht nämlich mit dem Text bestimmt nicht darum, die negative Vorausschau am Ende des Textes zu bestätigen, sondern eher darum, die Leser und Leserinnen anzustacheln, sich in die Wahlrechtsdiskussion einzuschalten, damit es vielleicht doch nicht so kommt, wie von mir und bestimmt auch von dir befürchtet. Möge meine negative Prognose widerlegt werden!