Ein Demokratielehrer

Erinnerung an Michael Th. Greven in Marburg

Die erste Begegnung mit ihm war unvergesslich. Sommer 1984 an der Marburger Uni in einem der Türme der Philosophischen Fakultät (kurz: Phil-Fak). Professor Michael Th. Greven hatte eingeladen zu einer Vorbesprechung eines Seminars der Politischen Soziologie im kommenden Wintersemester. Es war eine übliche Veranstaltung, in der der Dozent einen Überblick über die zu lesende Literatur gab und auch schon erste Referatsthemen vergeben wurden. Es war ein heißer Juli-Nachmittag, die Luft in dem Raum im 5. Stock war stickig und fünfzehn Studenten (so hießen die damals, die Sprachverhunzung „Studierende“ gab es noch nicht), also fünfzehn Studenten harrten der Dinge, darunter auch der Verfasser dieses Textes.

Michael Th. Greven war guter Dinge, voller Enthusiasmus stellte er die Themen zu dem Seminar vor. Es ging, soweit ich mich erinnere, bei dem Seminar um Demokratietheorien. In den Ausführungen Grevens fiel mehrmals das Kürzel PVS, ehe einer der Studenten sich fragend zu Wort meldete und wissen wollte, was denn PVS eigentlich bedeute. Michael Th. Greven wollte vom Studenten wissen, in welchem Semester sich dieser befinde, und der Student sagte es ihm: „Im dritten Semester.“ Diese Antwort ließ den Professor die Stirn runzeln. Er habe gehofft, der Student studiere im ersten Semester, denn nur dann ließe sich die Frage nach PVS entschuldigen. Was PVS sei, dass müsse jeder Politikstudent spätestens ab dem zweiten Semester wissen. Dass der Student schon im dritten Semester sei und nicht wisse, was PVS sei, dass könne einfach nicht wahr sein. Er wolle aber, so fuhr Greven fort, falls im Raum doch der eine oder andere Erstsemester anwesend sei, nun noch mal erklären, dass PVS für „Politische Vierteljahresschrift“ stehe. PVS sei eine sehr gängige Abkürzung – so wie Lkw, SS oder „äipiessarr“.

Greven sprach’s und hielt nach dem letzten Wort „äipiessarr“ inne. Es entstand eine sehr lange Pause. Eine Fliege, wäre eine im Raum gewesen, hätte einen Liter Wasser austrinken können, so lang war die Pause. Jeder der Anwesenden hatte genug Gelegenheit zu fragen, was denn „äipiessarr“ bedeute – niemand nutzte diese Gelegenheit. Greven beendete das allgemeine Schweigen mit einem maliziösen Lächeln: „Für die ganz wenigen unter Ihnen, die nicht wissen, wofür ‚äipiessarr‘ steht, es steht für: ‚American Political Science Review‘. Das ist die Zeitschrift, die jeder Politikstudent unbedingt abonnieren muss.“ Ich weiß noch, wie ich unmittelbar nach dieser Seminarvorbesprechung in die Institutsbibliothek geeilt bin, um mir die „äipiessarr“ einmal anzuschauen und mich vor allem über die Abo-Bedingungen zu informieren.

Ich abonnierte dann die „äipiessarr“ doch nicht. Und mir ist in meinem ganzen Leben nie wieder ein Mensch begegnet, der die American Political Science Review im Abo bezog. Vielleicht habe ich aber einfach nur die falschen Leute getroffen.

Zwei Jahre später prallte ich mit Michael Th. Greven zusammen. Ich hatte eine Hausarbeit bei ihm zu schreiben. Das Thema war „Kleinparteien“. Im Mittelpunkt meiner Arbeit stand eine Untersuchung eines amerikanischen Politikwissenschaftlers über die Kleinparteien in der Bundesrepublik Deutschland. Ohne amerikanische Politikwissenschaftler ging bei Greven gar nichts. Und natürlich hatte ich für meine Hausarbeit auch einige Aufsätze aus der „äipiessarr“ verarbeitet. Dann merkte ich aber drei Tage vor dem Abgabetermin der vierwöchigen Hausarbeit, dass ich nicht rechtzeitig fertig werden würde, und ich entschloss mich, Greven um eine Fristverlängerung zu bitten. Aufgrund des Wochenendes erreichte ich ihn allerdings nicht und bekam ihn erst am Montag an seinem privaten Telefon an die Strippe. Es war nur noch ein Tag Zeit und meine Arbeit noch lange nicht fertig.

Greven beschied meine Bitte um eine Fristverlängerung abschlägig. Die Prüfungsordnung sehe eine vierwöchige Frist vor, da könne man nichts machen, so Greven. Ich schlug vor, man könne doch einfach die Ausgabe des Themas umdatieren, um so eine fristgerechte Abgabe der Arbeit zu erreichen. „Das was Sie mir vorschlagen, ist Urkundenfälschung“, antwortete Greven mit sehr eisiger Stimme, „und wir beenden jetzt besser das Gespräch!“ Sagte es und tat es. Ich schaffte es dann doch noch, durch nächtliches Durcharbeiten meine Hausarbeit fertigzustellen und erhielt von Greven sogar noch eine akzeptable Note.

Ich schreibe das hier, um zu illustrieren, dass Michael Th. Greven überhaupt kein Kuschelprofessor war und sich dadurch von den meisten seinerzeitigen Hochschullehrern am legendären Marburger Fachbereich 03 unterschied. Greven hasste es, wenn die Teilnehmer an seinen Seminaren, die Literatur nicht gelesen hatten und dieses durch sachfremdes Schwadronieren zu kaschieren versuchten. Es passierte in diesem Falle auch schon öfters mal, dass die Schwadroneure vor dem versammelten Seminar von Greven als solche bloßgestellt wurden. (Den in den 80er Jahren an allen bundesdeutschen Universitäten nervenden Sektengurus der „Marxistischen Gruppe“ war Greven als einziger Hochschuldozent in Marburg rhetorisch und inhaltlich gewachsen, er hatte es nicht nötig die Vertreter dieser Organisation per Hausrecht aus seinen Seminaren zu verweisen, er verwies sie intellektuell in ihre Schranken.) Professor Greven schenkte seinen Studenten nichts, er forderte sie und das tat ihnen gut.

Aber Michael Th. Greven war natürlich mehr als das. Er war ein sehr engagierter Vertreter seines Faches, der Politikwissenschaft. Er kämpfte wie ein Löwe um die Reputation dieses Faches, gerade auch gegen Tendenzen, die aus der Politikwissenschaft ausschließlich einen ideologischen Zulieferbetrieb für gesellschaftliche Interessenvertretung machen wollten. Greven stand in der Tradition der US-amerikanischen Political Science, die sich immer als die Lehre der Demokratie verstanden hat. (Dass er seinen zweiten Vornamen Thomas stets in Form eines amerikanischen middle initials gebraucht hat, kann man durchaus als Reminiszenz an die amerikanische Richtung seines Faches verstehen. Auffallend bei ihm war auch der regelmäßige Gebrauch des Begriffes issue, den er stets in amerikanischem Englisch [wie „ischju“] aussprach.)

Michael Th. Greven hatte es in Marburg nicht immer leicht. Als er 1978 als gerade mal 30-jähriger für eine Doppelprofessur Politikwissenschaft und Soziologie nach Marburg an den gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereich 03 kam, fand er dort ein Professorenkollegium und einen akademischen Mittelbau vor, die von einem DKP/SED-nahen Milieu dominiert wurden. Greven war schon damals ein glasklarer Bürgerrechts-Linker (Sozialistisches Büro, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Humanistische Union) und daher dem DKP-Spektrum, das es nicht so mit bürgerlichen Grundrechten hatte, ein Dorn im Auge. Greven wurde von seinen DKP-Kollegen als „Rechter“ geschmäht und in den Gremien des Fachbereichs isoliert. Diese Isolierung wurde erst später aufgebrochen, als die Professoren Theo Schiller und Hans-Joachim Giegel ihm zur Seite standen.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre kam es zu einer menschlichen Annäherung von zumindest Frank Deppe, dem größten Kopf des Marburger DKP-Milieus, und Michael Th. Greven. Die beiden führten sogar gemeinsam ein Seminar zum Thema „Carl Schmitt“ durch und hatten dabei augenscheinlich sehr großen Spaß. Der Honeymoon zwischen Deppe und Greven dauerte allerdings nicht lange. Greven trat kurz nach der Wende in der DDR eine Gastprofessur in Leipzig an und entdeckte dort in einem Archiv, dass ein Mitarbeiter des Marburger Fachbereichs 03 als IM für die Stasi tätig war. Greven publizierte diese Entdeckung über eine Stadtzeitung in Marburg und erregte damit den Zorn des DKP-Milieus. Zwischen Deppe und Greven kam es zum erneuten Bruch.

Seit Michael Th. Greven 1991 Marburg Richtung Darmstadt verließ, habe ich ihn aus den Augen verloren und seine weitere Entwicklung nicht mehr verfolgt. Im Jahr 2001 sah ich ihn noch einmal in Marburg auf einem Symposium seines ehemaligen Fachbereichs 03. Greven stellte dort Thesen über eine von ihm befürchtete Marginalisierung des Faches Politikwissenschaft zur Diskussion. Die Teilnehmer am Symposium wollten darüber nicht diskutieren, sondern lieber Grevens Position zum damals schon zwei Jahre zurückliegenden Kosovo-Krieg anprangern – das war mehr als schade.

Dass sich Greven an der Universität Hamburg große Verdienste um die Verhinderung einer Ehrendoktorwürde für den russischen Autokraten Wladimir Putin erworben hat und dass Greven beinahe Präsident der Berliner Humboldt-Universität geworden wäre, habe ich nur noch am Rande aus den Medien mitbekommen. Sein Opus Magnum von 1999 „Die politische Gesellschaft“ habe ich leider nie gelesen und werde deshalb nichts dazu sagen. Das Buch nicht gelesen haben, aber drüber schwafeln, das wäre wirklich nicht im Sinne von Greven.

Am 6. Juli 2012 wurde Michael Th. Greven nach dem Erreichen des 65. Lebensjahres von der Universität Hamburg im Rahmen einer Feier emeritiert. In der Nacht darauf ist er gestorben. Kein guter Zeitpunkt für den Tod.

Siehe auch:
Nachruf im Blog Rotsinn
Nachruf in theorieblog.de


Kommentare

Ein Demokratielehrer — 2 Kommentare

  1. Lesenswert und zutreffend! Michael Greven war für viele, die ihn im akademischen Betrieb Marburgs kennen gelernt haben, ein Fixpunkt für Auseinandersetzung im besten Sinne.

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